Sophia sitzt im Wohnzimmer auf dem Boden vor dem Fenster und schaut gedankenverloren hinaus in den verregneten Garten. Ich trete an sie heran und berühre sie vorsichtig an der Schulter, frage, was sie gerade tut. „Ich habe die Welt angelächelt, Mama.“ Wie schön! Was für ein süßes Kind! Mein Kind. Und, was ist passiert, frage ich weiter. „Sie hat zurückgelächelt.“ Damit steht sie fröhlich auf und läuft hinaus in den Flur, um Jacke und Gummistiefel zu holen und anschließend in den Garten zu hüpfen. True story.
„Wie gut wir es doch haben!“
Die Kinder und ich sind draußen im Garten und genießen die wohl letzten Sonnenstrahlen in diesem langen Spätsommer, den wir dieses Jahr haben. Es ist immerhin Anfang Oktober. Wir ernten unsere Himbeeren und Äpfel und überlegen, was wir aus diesen Leckereien zaubern können. Sophia läuft zur Schaukel und genießt den sanften Schaukelwind in ihren Löckchen. Jakob kann sich von den Himbeeren nicht losreißen und beginnt bereits die noch unreifen Früchte zu pflücken. Ich lenke ihn geschickt zur Sandkiste, er lässt sich bereitwillig ablenken und baut einen Sandhaufen nach dem anderen. Mein Mann kommt früher von der Arbeit nach Hause, um uns zu überraschen und gemeinsam mit uns das schöne Wetter zu genießen.
„Wie gut wir es doch haben!“
Ich liege im Krankenhaus, zugedröhnt von den überaus starken Schmerzmitteln, die ich nun nach Stunden der unvorstellbarsten Schmerzen Gott sei Dank endlich bekommen habe. Von dem ungewöhnlich großen Nierenstein, der seinen gnadenlosen Weg von Niere zur Blase durch den schmalen Harnleiter genommen hat und nun oberhalb der Blase feststeckt, weiß ich zu diesem Zeitpunkt nichts. Es ist mir auch egal. Alles, was in diesem Moment zählt, ist, dass ich doch noch nicht sterben muss (denn genau so fühlte es sich wenige Minuten zuvor noch an) und mein kleines 9-Monate altes Mädchen weiter aufwachsen sehen werde. Ich bin nur froh und erleichtert, dass ich nun in einem modernen Krankenhaus liege und von kompetenten Ärtzten behandelt werde, während mein Mann völlig unkompliziert und kurzfristig frei bekommt, um sich um Kind und Haus zu kümmern.
„Wie gut wir es doch haben!“
Ich bin ein Kind und besuche mit meiner Familie meine Verwandtschaft mütterlicherseits in Weißrussland. Wir haben Sommer, es ist unfassbar heiß, meine Brüder und ich sitzen zu Dritt auf der Rückbank, haben ständig Durst und rangeln im Auto um jeden Zentimeter Freiheit, weg vom schwitzigen Körperkontakt zueinander. Wir haben keine Lust mehr, im Auto zu sitzen. Mein Vater lenkt das Auto in Richtung Tankstelle, um uns neue Getränke zu kaufen. Als wir an der schäbigen Tankstelle halten, sehe ich aus dem Fenster, wie eine kleine Gruppe Kinder am staubigen Straßenrand sitzt. Sie sehen schmutzig aus, gierig, lauernd. Sie tun mir auf Anhieb leid. In der Mitte der Kinder steht ein schmutziger Eimer, das älteste Kind rührt mit einem Stock darin herum, holt den Stock wieder heraus. An dessen einem Ende hängt eine Kartoffelschale, die anderen Kinder greifen gierig danach, zerreißen dabei die Schale in Stücke, die einzelnen Stücke fallen in den Dreck. Dennoch schlingen die Kinder diese Schale hinunter, weil sie offensichtlich nichts anderes haben. Ich schäme mich dafür, dass ich eben über den mangelnden Platz im Auto gemeckert habe. Wir haben ein Auto. Die Kinder draußen scheinen nichts und niemanden zu haben. Diese Szene brennt sich mir ein.
„Wie gut wir es doch haben!“
Ich sitze meiner Mutter am Küchentisch gegenüber, wir unterhalten uns über Gott und die Welt. Das Gespräch fließt entspannt vor sich hin, während Sophia und Jakob um uns herum wuseln, in der niedlichen Spielküche „Eis kochen“. Mein Stichwort, denn es wird Mittag. Ich beginne also das Mittagessen vorzubereiten. Es soll u.a. Buchweizen geben, dank meiner russischen Wurzeln ein fester Bestandteil unseres Speiseplans. Beim Anblick des Buchweizens erzählt meine Mutter eine mir vertraute Geschichte aus meiner Kindheit. Sie erzählt, wie wir alle einen Monat nur von Buchweizen gelebt haben, weil wir sonst nichts anderes zum Essen hatten. Wie wir alle so gut wie nichts zum Leben hatten. Damals in einem von Inflation und Korruption regierten Land, in Tallinn Ende der 1980er Jahre. Wie meine Eltern stundenlang für eine Packung Butter und etwas Milch anstanden, bewaffnet mit kostbaren Essensmarken, während mein Bruder und ich alleine in unserer kleinen Wohnung in einer Hochhaussiedlung geduldig auf die Rückkehr unserer Eltern warteten. Ich war drei Jahre alt, mein Bruder ein Jahr. Ungefähr so alt wie meine Kinder jetzt. Ich muss schlucken, schaue mich in unserer Küche um, die mit 10 m² größer ist als die erste gemeinsame Wohnung meiner Eltern. Ich öffne die Kühlschranktür, um die Butter zu holen und blicke auf die gefüllten Regale. Die Sorgen meiner Eltern werden nie meine Sorgen werden. Hoffentlich.
„Wie gut wir es doch haben!“
Ich erkläre Sophia, dass es nicht allen Menschen, nicht allen Kindern auf der Welt so gut geht, wie ihr und Jakob. Ich versuche es ihr so anschaulich wie möglich zu machen und muss dennoch aufpassen, dass ich sie nicht zu sehr beunruhige. Sie nimmt sich viele Dinge zu sehr zu Herzen. Ich verwende Bilder, die ihr vertraut sind. Versuche ihr klar zu machen, dass nicht jedes Kind das Privileg hat, in einem Haus mit Garten zu leben. Dass nicht jedes Kind ein eigenes Zimmer, voll mit Kleidung und Spielzeug hat. Dass nicht jedes Kind einen Essenswunsch äußern kann und ihn erfüllt bekommt. Dass nicht jedes Kind in einen Kindergarten und später in eine Schule gehen darf. Dass nicht jedes Kind sich Nacht für Nacht in ein gemütliches, kuscheliges Bett legen und danach Tag für Tag sorglos erwachen kann. Ich benutze kindgerechte Worte, softe Beispiele und dennoch kommt es bei ihr an.
„Wie gut wir es doch haben, Mama!“
Ja, wir haben es gut. Wir haben es wirklich gut. Wir genießen tagtäglich den Luxus der Sorglosigkeit. Es ist in der Tat ein Luxus, wenn man seinen Blick über den Tellerrand schweifen lässt. Der Großteil der Weltbevölkerung lebt anders. Lebt ein deutlich schwereres Leben als wir.
„Können wir diesen Kindern helfen?“
Ich bin froh, dass Sophia mich das fragt. Ich möchte, dass sie mit dem Wissen aufwächst, dass sie es gut hat. Dass sie aber bei all der Selbstverständlichkeit, die sie um gibt, den Blick für andere Menschen nicht verliert. Sie soll ihren Mitmenschen freundlich und mit Achtung begegnen und ihnen, wenn möglich, ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Dass das Prinzip der Nächstenliebe nicht nur für Menschen gilt, die man kennt und mag, sondern auch für diejenigen, die man eben nicht kennt. Neue Kinder im Kindergarten zum Beispiel, unbekannte Kinder auf dem Spielplatz oder an der Supermarktkasse. Das funktioniert bei Kindern in Sophias Alter bereits mit einer netten Geste, einer freundlichen Aufforderung zum Spiel. Bei Kindern, die allerdings nicht in unserem Umkreis wohnen, die wir gar nicht kennen, denen es aber eben nicht so gut geht, wie uns, hilft diese Art der Nächstenliebe nicht. Da muss es praktischer werden. Ich erkläre Sophia, dass Nächstenliebe in so einem Fall manchmal durch ein kleines Geschenk sprechen kann.
Bevor die stressige Weihnachtszeit beginnt, nutzen meine Familie und ich die Ruhe vor dem Sturm, um unsere Perspektive zu verändern, um uns wieder „einzunorden“. Seit wir selber Eltern sind, rücken nun verstärkt Kinder in unseren Fokus. Kinder, die nicht kindgerecht aufwachsen dürfen, weil sie in Ländern leben, die von Krieg und Terror zerrüttet sind. Die in Ländern leben, in denen die Politik die Belange der Kinder nicht hören kann, weil sie mit anderen, ebenfalls großen Problemen zu kämpfen hat. Kinder, die auf sich selbst gestellt sind, die für ihr Alter zu viel erlebt haben, die schneller erwachsen werden als unsere. Diesen Kindern schenken wir jährlich u.a. eine kleine Freude. Dieses Jahr ist Sophia nun ebenfalls daran beteiligt. Zum ersten Mal packt sie (fast) selbstständig zwei Schuhkartons mit Dingen, über die sich je ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge hoffentlich freuen werden. Denn sie macht mit bei Weihnachten im Schuhkarton (ein bisschen Schleichwerbung für eine wirklich gute Sache ist ok, finde ich). Sie wird die Situationen der beiden kleinen Kinder, denen sie mit viel Sorgfalt kleine Geschenke aussucht, nicht ändern können, das ist uns klar. Aber sie kann sie für einen Moment vergessen lassen. Sie einfach Kind sein lassen. Sie kann ihnen ein wenig Freude schenken. Ein Geschenk, das Nächstenliebe zeigt. Nächstenliebe, die diese Kinder hoffen und glauben lässt. Auf eine Besserung, an das Gute, das es in der Welt gibt. Sie kann ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Wir sind keine Weltverbesserer. Im Gegenteil. Oft leben wir nur unser gewöhnliches, ein bisschen egoistisches Leben. Den Blick nach Innen, auf den auf unsere Bedürfnisse fokusierten Mikrokosmos gerichtet. Bis uns eine Situation oder ein Gespäch wieder daran erinnert, wie gut wir es doch eigentlich haben. Wir können die Welt nicht mit einem Schlag verbessern. Müssen wir auch nicht. Das liegt nicht in unserer Macht. Aber wir können anfangen, sie zu gestalten, sie bereits im Kleinen positiv zu verändern. Es muss nicht der Schuhkarton sein, um einem Kind zu erklären, wie Nächstenliebe auch auf einer anderen Ebene praktiziert werden kann. Er ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Der freundliche und respektvolle Umgang miteinander ist das, was zählt. Wir haben das Glück in einem wohlhabenden Land zu leben, wir sollten daher hin und wieder unsere Perspektive verändern. Über den Tellerrand schauen. Man muss kein Weltverbesserer sein. Oft reichen bereits Freundlichkeit und Rücksichtnahme aus, um die Welt unseres Nächsten für den Moment zu verbessern. Uns geht es doch gut, warum schenken wir unserem Nächsten nicht mal ein Lächeln? Vielleicht lächelt die Welt dann zurück?
Lächelt.
Eure Regina